Der Zauberkasten

Ist das ein Traum oder Wirklichkeit?

Nils war immer merkwürdig gewesen. Schon zu Grundschulzeiten. Viola erinnert sich an einen Nachmittag. Gemeinsam mit Schulfreund Semi waren sie bei Nils zum Spielen verabredet. Ein kleines Zelt war aufgebaut, so wie viele das damals hatten. In jedem zweiten Garten standen damals silberfarbenen Polyesterkugeln. Nils war in einem dieser Wanderhütten verschwunden. Nach einer Weile rief er Semi und Viola zu sich. Als sie den Reißverschluss der Tür komplett geöffnet hatten, sahen sie Nils splitterfasernackt auf der Seite zu ihnen gewandt auf dem Boden liegen. Er grinste freie. Seine stahlblauen Augen funkelten. 

Sie weiß noch ganz genau, wie erschrocken Semi und sie darüber waren. Semi schob sich seine runde Brille auf der Nase zurecht, als wäre auch diese aufgrund des Anblicks aus dem Gleichgewicht geraten. Eine seiner sehr typischen Bewegungen. Und Viola drehte ihren dunklen Lockenkopf schnell in eine andere Richtung. Bis heute hielt sie es in unangenehmen Momenten gern, wie die drei Äffchen: nichts sagen, nichts sehen, nichts hören. Sie weiß gar nicht mehr, was Nils Erklärung für seine Entblößung war. Hatte er damals nicht sogar erzählt, er wolle später einmal Pornostar werden? Wo er das herhatte? Oder bildete sie sich das in der Retrospektive ein? Nach wie vor findet Viola die Geschichte unabhängig davon schräg. Eben so schräg wie den kompletten Jungen Nils. 

Aber Nils war schon lange nicht mehr. Nach einer Faschingsparty, die er zusammen mit Semi - er als Zauberer und Semi als He-Man verkleidet - besuchte, kamen beide nicht wieder nach Hause. Es herrschte Aufruhr im Ort. Zwei 16-Jährige, die zu tief ins Glas geguckt hatten, waren vielleicht in den dunklen Wald gegangen. Nils, der sich zu der Zeit für eine Reinkarnation eines Hexenmeisters aus einem seiner geliebten Fantasy-Romane hielt, wollte irgendeine schwarze Magie heraufbeschwören. Und Semi, der ihm schon immer nachlief wie ein Golden Retriever Welpe, war mitgegangen. Dabei hatten sie ausgerechnet die Stelle im trockengelegten Moor erwischt, die eben noch nicht völlig trocken war. So die Theorie und so auch für jedermann nachvollziehbar, zumindest für jeden, der die beiden auch nur halbwegs kannte. Seit dem Kindergarten bildeten sie ein nerdiges Zweiergespann und pendelten sich irgendwo zwischen Don Quijote und Sancho Panza und Batman und Robin eben als Nils und Semi ein. Viola durfte ihrem Treiben ab und zu als Prinzessin Daisy beiwohnen. Zu Zeiten der besagten Kostümparty war sie den beiden allerdings längst entwachsen. 

Eine weitere Theorie für ihr Verschwinden ist das Gewaltverbrechen. Wieder eine andere, die Entführung. Oder waren sie schlicht weggelaufen? Nur warum? Hinter den Fassaden der Familien wurde nie etwas Haltbares gefunden.

All‘ diese Fragen wollen sich Nils Eltern nach nun 20 Jahren nicht mehr stellen. Zumindest geben sie das vor. Sie haben beschlossen, aus Nils Kinderzimmer ein Arbeitszimmer zu machen. Damit schließen sie die Tür zu dem Fall, indem sie sie öffnen. Darum der Hofflohmarkt. Darum steht Viola wieder in dem Garten, in dem sie vor knapp drei Jahrzehnten zum ersten Mal einen nackten Jungen sah. Heute nicht mit offenen Locken, sondern mit Pferdeschwanz und in einem lässigen Sonntagsoutfit aus Sneakern, Jeans und T-Shirt, mit dem sie weder beim Schlendern vorbei an den Tapeziertischen auffällt noch beim Brunch in ihrem Lieblingscafé für Aufsehen sorgen würde. 

Violas Blick schweift über Nils TKKG-Kassettensammlung, zerbeulte Plastikschwerter, „Master of the Universe“-Figuren und bleibt an seiner Mutter haften. Die steht hinter den Tischen und preist das alte Spielzeug ihres verschwundenen Sohns an wie warme Semmel. Es ist das Schauspiel einer Mutter, die o tun will, als sei das das Normalste der Welt. Während die Mutter also jedem aufmunternd zulächelt und gern mit sich handeln lassen will, greift Nils Vater nach jedem Teil, das Gefahr läuft, verkauft zu werden, als handele es sich hier um die Zwangsversteigerung seiner eigenen Seele.  

Viola ist hin- und hergerissen. Sie würde am liebsten alles kaufen. Zum Beispiel die Zinnsoldaten, mit denen sie auf dem Fliesenboden im Esszimmer herumgerobbt sind, um Kriege auszufechten, die so weit hergeholt waren, dass sie fast schon real waren. Oder das abgegriffene Uno-Spiel, das sie im Freibad immer dabeihatten. Doch sie erträgt den Vater nicht. Und so sehr sie ebenso wie er all‘ das vor der endgültigen Vergessenheit retten will, so sehr will sie es auch wieder nicht. 

Ist es ihre Aufgabe, den Job der Eltern zu übernehmen? Irgendwann, so ist sie sich sicher, werden sie es bereuen. Die Mutter, das Zähne zusammenbeißen und der Vater, dass er sich nicht gegen sie durchsetzen konnte. Sie werden sich jedes noch so kleinste Detail ihres lieben Nils zurückwünschen. Doch dann wird es zu spät sein. Nein, Viola will nicht die Retterin spielen. Sie hat mit alldem schon lange abgeschlossen. Welchen Weg Nils Eltern zum Vergessen, zum Überwinden, zum Weitermachen gehen, soll sie nicht kümmern. 

Aber weil ihre Mutter drängelt und Viola es gerade in der Hand hält, kauft sie dann doch noch ein Teil: den Zauberkasten.

„Ganz furchtbar“, sagt ihre Mutter auf dem Weg nach Hause. „Füüüürchterlich, oder? Die Armen … und dann Nils. Weißt du noch, wie er war?“

Viola nickt, wenngleich sie bezweifelt, dass sich ihre Erinnerungen decken.

„Du könntest auch mal deine Sachen aus der Abstellkammer mitnehmen. Da sind noch ganz viele Ordner von dir aus dem Studium. Brauchst du die noch?“

Mit dem Zauberkasten in der einen und der Autotür in der anderen Hand beschwichtigt Viola ihre Mutter. „Ein anderes Mal, okay?“

Am Abend in ihrer Wohnung in der Küche nach einem leckeren Pasta-Essen sitzt sie mit ihrem Freund Alex und zwei gefüllten Rotweingläsern am Tisch. Der Zauberkasten steht zwischen ihnen. 

„Abgefahren“, sagt ihr Freund und schaut durch die Utensilien. „Ein oller Hut. Guck mal, wie zerfetzt. Und ein Hoppelhase.“

„Hans“, bemerkt sie nebensächlich, während sie am Zauberstab herumfummelt, sodass sich die weißen Enden lösen, und an einem Faden schlaff herunterbaumeln. 

„Alter Kram“, sagt sie. 

„Lass mal trotzdem was mit machen“, schlägt er vor. „Genau den wollte ich früher auch haben. Jetzt wünsch dir was und ich zaubere es dir.“

Umständlich versucht sie die Enden des Stabs wieder zu befestigen und überreicht ihn schulterzuckend ihrem Freund. 

„Ach komm, sei kreativ.“

„Naaaa gut. Ist aber nicht einfallsreich.“

„Lass hören.“

Sie nimmt die Schulterblätter zurück, richtet sich auf, doch ihr Blick bleibt auf der Tischplatte kleben. „Ich wünsche mir, Nils und Semi könnten hier sein – für einen Moment.“

„Hex, hex“, ruft Alex und macht mit dem Zauberstab und den Fingern seiner freien Hand eine Bewegung, als würde er Tauben verscheuchen. Dabei guckt er allerdings so ernst, als würde es sich um böse Geister handeln.

„Siehst du, das ist Quatsch“, sagt Viola als nichts passiert und räumt den Tisch ab. „Lass uns schlafen gehen.“ 

Das Erste, das Viola am nächsten Morgen spürt, ist ihre vom Alkohol pelzige Zunge, die ihr das Gefühl gibt, sie hätte eine Katze im Mund. Der Geruch warmen Plastiks steigt ihr in die Nase. Sie ist wirklich zu alt für Hochprozentiges geworden, wenn sie das Bisschen des guten Barolos derart ausknockt, denkt sie. Das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses holt sie zurück ins Hier und Jetzt. Sie lässt Lichtstrahlen durch ihre Wimpern scheinen und blinzelt. Als sie ihre Augen endlich öffnet, sieht sie in ein stahlblaues Augenpaar, das sich an raschelndem Polyesterstoff vorbeischiebt und einen nackten, behaarten Männerkörper hinter sich herzieht. Ehe Viola reagieren kann, liegt er neben ihr auf der Seite, seinen Ellenbogen auf dem Boden abgestützt, sodass er seinen Kopf auf der Handfläche halten kann. Frech grinst er sie an. Sofort wendet Viola sich von ihm ab und zieht den Schlafsack, in dem sie zu ihrer Überraschung steckt, bis unters Kinn. Warum liegt sie in einem Zelt? Und wer ist der Nackte? Hilfesuchend schaut sie zum Ausgang. Davor steht noch ein Mann ihres Alters. Angezogen – zum Glück. Nervös schiebt er seine Brille auf seinem Nasenrücken zurecht. 

Sie will etwas sagen, doch kann nicht. Panik steigt in ihr auf. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie sammelt ihre Kräfte und stößt ein „Alex!“ hervor. Allerdings bleibt ihr der Name zur Hälfte Halse stecken, ehe sie ihn vollständig ausrufen kann. 

Dann noch ein Versuch. „Alex! Alex“, würgt sie mehr, als dass sie ruft, „weck mich auf!“ 

Sie hört etwas in der Ferne widerhallen. „Hex, hex! Hex, hex!“

Viola presst ihren Körper fest an den Boden und atmet schwer. Dabei spürt sie, wie unter ihrem Haar Sandkörner rascheln. Die Grundausstattung eines jeden Zelts. Mit Händen vor dem Gesicht zählt sie bis zehn. Bitte, lass es nur ein schlechter Traum sein, hofft sie. Doch als sie wieder aufblickt, ist dieses Augenpaar über ihr. Mehr fordernd als fragend ist es jetzt ganz nah. Zu nah. Sie will das nicht. Dann wird alles schwarz und sie fällt. 

 

Ich freue mich über Feedback!

Copyright © Caroline Vulter. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.