Laura starrt aus dem Fenster. In der Fußgängerzone unter ihr schleifen Frauen Einkaufstrolleys hinter sich her, Mütter schieben mit Kinderwagen und Männer sportliche Räder. Auffällig viele Erwachsene scheinen ihre Mittagspause auszureizen. Auf den bislang verwaisten Stühlen des italienischen Eiscafés von gegenüber genießen sie die ersten Sonnenstrahlen des Jahres. Müssen die denn nicht arbeiten?
Während sie mit dem Zeigefinger ihre Korkenzieherlocken umspielt, geht sie erneut ihre Antworten des Jobinterviews von gestern durch. Wie sie ihre Fallstudie präsentierte und vor der Leinwand auf und ab ging, während ihre Chefs sie mit Fragen bombardierten. Der eine, wie er sich mit der Hand über den Dreitagebart streifte und es nicht lassen konnte, zu fachsimpeln. Und der andere mit seinem Kugelbauch, wie er wie ein kleiner Junge grinsend den Dummen mimte. Keiner von beiden schaffte es, Laura aus der Reserve zu locken. Sie. Selbstsicher. Bäm!
Unter ihr im Eiscafé stolpert der Kellner über einen Hund, der neben seinem Herrchen liegt. Laura kichert. Zeit für mehr Koffein, beschließt sie, greift zu dem Becher mit dem Aufdruck bunter Sonnenbrillen und dreht mit dem Stuhl herum. Im Flur quietscht der Holzfußboden unter ihren Schritten. Ansonsten ist es so ruhig, dass sie ihren Atem hören kann. Weder in der Wohnung über ihr noch in der unter ihr rührt sich jemand. Wahrscheinlich sitzen sie alle unten im Eiscafé oder irgendwo anders in irgendeinem Eiscafé. Sie aber hält die Stellung, denn das sollten Führungskräfte in spe tun: erreichbar sein und die Stellung halten - ganz besonders im Homeoffice. Bestimmt rufen sie gleich an, um ihr die Entscheidung mitzuteilen.
Während Laura Hafermilch aus dem Kühlschrank holt und alle Nachfüll- sowie Reinigungswünsche der Kaffeemaschine ausführt, geht sie mögliche Punkte durch, die gegen ihre Beförderung sprechen könnten. Doch zurück auf dem Weg zum Schreibtisch ist sie sich sicher, dass es da keine Bedenken geben kann. Ihr aufgeklappter Laptop hat die Bildschirmsperre aktiviert. Statt der Excel-Tabelle mit den Investitionszahlen für ihr Projekt, ist eine malerische Landschaft zu sehen. Wasser fließt an Felsvorsprüngen hinunter. Großzügig verwendeter Weichzeichner hat die Szenerie in das Gegenteil von dem verwandelt, was sie ist: von laut, schnell und reißend zu stumm, ruhig und anschmiegsam. Irgendwie schöne und doch billige Bildbearbeitung.
Zumindest für ihr Berufsleben wünscht sich Laura gerade mehr von dem Lauten, Schnellen und Mitreißenden. Jetzt ist ihre Zeit! Endlich! Und überfällig – na klar! Mit ihrem Werdegang … Oder ist sie vielleicht doch nicht so toll? Was mit Stipendien und Auslandsaufenthalten nach einem exklusiven Drei-Gänge-Menü für jede Personalabteilung klingen sollte, erscheint ihr plötzlich wie das Essensangebot einer Schulkantine. Ist das nicht Standard? Hat das nicht jeder? Ein Lebenslauf wie getragene Turnschuhe im Sommer.
Laura beugt sich vor, dreht am Fenstergriff und zieht daran. Irgendwas muss sie jetzt in Schwung bringen. Ein Luftzug weht durchs Zimmer. Ihre Füße werden zuerst kalt. „Schön, geht doch“, sagt sie in die Stille und schaut auf die Tastatur. Steuerung-Alt-Entfernen und ihr Arbeitstag würde beginnen. Aber ihr Blick schweift ab und fällt auf die beiden Smartphones, die neben ihr liegen. Ein großes mit einer mattschwarzen Hülle und ein sehr viel kleineres in Grün und ohne Hülle. Das Ungeschützte ist ihr Privates. Beide Bildschirme sind blank und dunkel. Keine Nachrichten oder Anrufe blinken auf. Trotzdem greift sie zu dem Klotz, wischt auf dem Display herum und reibt sich die Augen. Sie sucht nach ihrem alten Chef. Dreimal klingeln, dann ist er dran. Er hat nicht viel Zeit, erklärt er. Daher kommt Laura direkt zur Sache, berichtet ihm von dem Interview, ihren dreihundert Überstunden und den Businesstrips.
„Im Schnitt war ich zwei Tage die Woche unterwegs, hatte Nackenschmerzen von den Hotelkissen und habe in Nachtschichten Kalkulationen hin und her gerechnet.“
„Und?“
„Und nun lassen sie mich zappeln. Das verstehe ich nicht. Ich meine, ja gut, es gibt diesen Prozess bei uns, den alle für eine Beförderung durchlaufen müssen, aber ich habe mir viereinhalb Jahre ein Bein ausgerissen. Die kennen mich. Allein unser gemeinsames Großprojekt. Ich war es, die das gesamte Team immer wieder motivierte, mitzumachen. Ich bin eine Führungskraft.“
„Sicher“, sagt er.
„Mmmmhhh …“, macht sie.
„Die überlegen oder es ist etwas Wichtigeres dazwischengekommen. Das ist alles.“
„Und wenn es nichts wird?“
„Kannst zu mir kommen. Ich habe einen Job für dich.“
„Leitung?“
„Nee, Senior.“
„Mmmmhh …“, macht sie wieder.
Nachdem sie aufgelegt haben, greift sie zur Tasse. Lauwarm. Frustriert lässt Laura sich gegen die Rückenlehne ihres Vitra-Bürostuhls fallen. Ein Luxus, den sie sich von ihrem ersten Bonus gegönnt hatte. Damals riefen ihr die ausnahmslos männlichen Vorgesetzten noch jubelnd „Go! Go! Go!“ zu. Gute zehn Jahre später verhalten sie sich wie Türsteher einer Szene-Disco, für die sie zu – zu was eigentlich ist? Laura grübelt. Ihre beiden aktuellen Chefs sind anders. Die Ehefrauen arbeiten, Teilzeitanträge von Vätern werden unkommentiert genehmigt und im Urlaub dürfen keine Mails gecheckt werden. Fair und offen sind sie beide. Also, warum sollten sie Laura ihre Beförderung nicht geben?
„Ich bin eine Gewinnerin“, murmelt sie und streckt eine Faust in die Höhe.
Schweißgeruch zieht ihr in die Nase. Sie hebt erneut ihren rechten Arm und riecht an ihrer Achsel – dann den linken. Rechts geht es, aber links riecht wie ihr Freund nach einer durchtanzten Nacht. Bei dem Gedanken an Körperausdünstungen fängt alles an ihr an zu kribbeln. Zeit für eine Dusche. Die Jogginghose und das Shirt schmeißt sie aufs Bett. Nackt steht sie zwischen Nachttisch und Badezimmertür und wirft einen kurzen Blick in den Spiegel, der an der Wand klebt. Sie tätschelt ihr Bäuchlein. Ihre Periode kündigt sich an. An enge Jeans darf sie nicht denken. Gleichzeitig erkennt sie in ihrem Spiegelbild nichts davon. Trotzdem ist sie heute nicht zufrieden mit sich.
„Du bist ’ne fette Loserin“, sagt sie zu sich selbst und verzieht ihr Gesicht.
Mit dem Duschkopf in der Hand lässt sie sich Wasser in den geöffneten Mund sprudeln. Über kleine Fontänen spuckt sie es wie mechanisch wieder aus. Dabei nimmt sie ihren Blick nicht von den Tropfen auf dem Glas der Trennwand. Nachmittags rufen bestimmt die Chefs an. Sie werden sagen, dass sie begeistert waren von Lauras Präsentation und sie natürlich befördert wird. Und dann wird sie denken, dass ihr alter Chef doch recht hatte und ihre aktuellen Chefs hatten davor einfach keine Gelegenheit, anzurufen. Und sie wird darüber lachen können, denn dass es bis nachmittags dauert, ist ja nun wirklich kein Drama.
Laura will sich etwas Schickes anziehen, wenn sie im Bad fertig ist - das karierte, knielange Blusenkleid. Das ist aufgrund des lila Musters wild. Es macht sie rebellisch und jung. Kombiniert mit Strumpfhosen, ist es gleichzeitig seriös. Vorher will sie sich rasieren. Großzügig trägt sie Schaum auf ihren Unterschenkel auf. Die weißen Wölkchen riechen nach Vanille. Mit der Klinge fährt sie darüber, wie ein Schneeschieber, der im Winter die Straßen räumt. Linie für Linie. Zuerst in Richtung der Haare, danach gegen die Wurzel. Ihre Haut fühlt sich gereizt an. Wahrscheinlich, weil sie das jeden Tag macht - jeden Tag seit ihrer Teenagerzeit: runter und wieder hoch.
Abgetrocknet und eingecremt geht sie ins Schlafzimmer. Das Kleid hängt an der Außenseite ihres Schranks. Von dort aus lacht es Laura an oder aus – je nach Perspektive. Sie entscheidet sich für Anlachen und streift es sich über. Noch einmal wirft sie einen Blick in den Spiegel. Ihre Lippen formen sich zu einem breiten Lächeln. Wird schon alles in Ordnung sein. Blöde Hormone. Sie werden sie nicht auf ihrer jetzigen Position versauern lassen.
Mit dem Vorsatz, nun produktiv zu sein, setzt Laura sich wieder an ihren Laptop. Doch noch bevor sie die Bildschirmsperre deaktivieren kann, stehen sie wieder im Weg, ihre Zweifel. Dieses Mal greift Laura zum kleinen, grünen Handy.
„How goes it?“, schreibt sie ihrer besten Freundin.
„Die Kleine zahnt“, kommt die prompte Rückmeldung. „Und bei dir?“
„Ich warte auf die Entscheidung“, antwortet Laura und fügt ein Emoji an, dessen hochroter Kopf platzt.
„Mach dir keine Sorgen. Leistung wird belohnt.“
„Mmmmhhh …“, kommentiert Laura.
Daraufhin bekommt sie ein „Fühl dich gedrückt“ und „Küsschen“ zurück.
Mit Ellenbogen auf dem Tisch und Kopf auf die Handfläche gelegt, schaut sie erneut aus dem Fenster. Unten serviert der Kellner einer Gruppe Frauen mit auf geföhnten Frisuren und in fröhlichen Jacken Kuchenstücke mit Sahne. Begleitet von einem Seufzer schaltet Laura ihren Computer aus. Sie kann sich auf nichts konzentrieren. In ihrem Kopf existiert trotz aller Umdeutungsversuche nur eins. Wie mit Schreibmaschine geschrieben, hat sich die Frage unwiderruflich breit gemacht: Werde ich befördert?
Verdammt. Laura hält die Ungewissheit kaum aus. Bestimmt rufen sie bald an. Und darauf warten, kann sie auch im Café. Vorsichtshalber stopft sie ihren Laptop in die Tasche, lässt die Telefone hineingleiten und geht zur Garderobe. Im Hausflur steht kalter Rauch. Der Mieter im Erdgeschoss investiert seine Rente in Zigaretten. Eine Hand hält Laura sich vor Nase und Mund und mit der anderen greift sie nach dem Treppengeländer. Nichts wie raus hier, denkt sie, und nimmt jede zweite Stufe Richtung Ausgang. Durch das Milchglas der Tür zum Hof scheint die Sonne. In wenigen Schritten wird sie draußen sein, die Frühlingsluft einatmen und über die Straße Richtung Eisbecher marschieren. Da vibriert es in ihrer Tasche. Ein Anruf.
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